Le Clézio, ein fliehender Stern und die Seealpen

Als dem Franzosen Jean-Marie Gustave Le Clézio im Oktober 2008 der Literaturnobelpreis verliehen wurde, sagte er: „Der Schriftsteller besitzt schon seit einiger Zeit nicht mehr die Überheblichkeit zu glauben, dass er die Welt verändert und mit seinen Kurzgeschichten, seinen Romanen ein besseres Lebensmodell schafft. Heute will er nur noch Zeuge sein.“
Nur noch? Ereignisse zu „bezeugen“, die sonst in Vergessenheit gerieten, ist ja nicht der schlechteste Anspruch. Aber wir wollen uns hier nicht aufs glatte Eis der Literaturkritik begeben (Marcel Reich-Ranicki kannte Le Clézios Bücher vor der Entscheidung des Nobelpreiskomitees nicht, Sigrid Löffler fand eben diese „bizarr“), sondern lediglich davon berichten, dass Le Clézio in seinem Buch ‚Fliehender Stern‘ (*) auf den ersten 145 (von 377) Seiten jene Geschichte erzählt, von der wir in unserem Beitrag Das Memoriale della Deportazione in Borgo San Dalmazzo auch schon berichtet haben.


Von März bis September 1943 hatte eine Gruppe von Juden unterschiedlichster Nationalitäten in Saint-Martin de Vésubie Zuflucht gefunden und suchte, da die Deutschen von Süden vorrückten, einen Weg nach Italien. Ihre Hoffnung – mittlerweile war Mussolini abgesetzt und am 8. September der italienische Waffenstillstand erklärt – mit dem beschwerlichen Weg über den Col de Fenestre oder alternativ den Col de Ciriegia und weiter über Entracque und Borgo San Dalmazzo in die Freiheit zu gelangen, trog: die Deutschen marschierten am 12. September auch in diese Region ein und besetzten die italienischen Stellungen. Die Flüchtlinge – insgesamt circa 300 Familien – wurden von den Deutschen auf Basis der von Mussolini 1938 erlassenen ‚Rasse-Gesetze‘ festgenommen und in Borgo San Dalmazzo inhaftiert.

Le Clézio erzählt diese Geschichte aus der Sicht des Mädchens Esther, die dem Schicksal entgangen ist, in Borgo San Dalmazzo in Güterwaggons gepfercht und in das Konzentrationslager Auschwitz transportiert zu werden, wo 311 Menschen dieser Fluchtgruppe ermordet wurden – worauf heute das ‚Memoriale della Deportazione‘ hinweist.

Wer das Buch mitnimmt auf eine Wanderung auf dem ‚Percorso Ebraici‘ von Madone de Fenestre ins Gessotal, wird einige wenige geografische Ungenauigkeiten darin entdecken (die französisch-italienische Grenze verlief beispielsweise 1943 noch nicht genau auf der Passlinie) und auch feststellen, dass Le Clézio – es handelt sich schließlich um einen Roman und keinen Tatsachenbericht – die zweimonatige Phase, in der die Fluchtgruppe in San Dalmazzo im Campo di Concentramento eingesperrt war, ausgelassen hat. Was der Eindringlichkeit des Romans allerdings nicht den geringsten Abbruch tut.

Sabine Bade & Wolfram Mikuteit

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(*)
J.M.G. Le Clézio: Fliehender Stern, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, ISBN: 978-3-462-04118-7. Im Original: ‚Étoile errante‘, erschienen 1992 bei Gallimard

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