Schallende Ohrfeige für Stuttgarter Juristen
„Hinreichender Tatverdacht“: Das Oberlandesgericht Karlsruhe hat im Klageerzwingungsverfahren der Opfervertreter des Massakers von Sant’Anna di Stazzema den Einstellungsbeschluss der Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen den ehemaligen SS-Untersturmführer Gerhard Sommer aufgehoben. Damit könnte eines der größten und grausamsten Verbrechen, das deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg verübt haben, doch noch vor Gericht aufgearbeitet werden. Außerhalb Baden-Württembergs.
Nächste Woche jährt sich zum 70. Mal der Tag, an dem im toskanischen Bergdorf Sant’Anna di Stazzema mindestens 560 wehrlose Frauen, Kinder und alte Menschen ermordet wurden: Am frühen Morgen des 12. August 1944 erreichten Einheiten der 16. SS-Panzergrenadierdivision „Reichsführer SS“ den Ort. Als sie Stunden später das Dorf wieder verließen, lagen mehrere hundert Menschen tot auf dem Kirchplatz und in den Trümmern ihrer Häuser – erschossen, verstümmelt, verbrannt. Darunter über 100 Kinder.
Der an den Taten beteiligte Kompanieführer des II. Bataillons des 35. Panzergrenadier-Regiments der 16. SS-Panzerdivision „Reichsführer SS“ Gerhard Sommer, seit 1939 Mitglied von NSDAP und Waffen-SS, erhielt wenige Tage nach dem Massaker, am 19. August 1944, das Eiserne Kreuz I. Klasse.
Stuttgarts Juristen setzten jahrelang auf die „biologische Lösung“
Vor deutschen Gerichten mussten sich die Täter nie verantworten. Im Gegensatz zu Italien, wo das Militärgericht La Spezia am 22. Juni.2005 zehn der Beschuldigten in Abwesenheit schuldig sprach und wegen „fortgesetzten Mordes mit besonderer Grausamkeit“ zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilte. Auslieferungshaftbefehle der Italiener wurden jedoch abgewiesen, sodass die im fernen La Spezia rechtskräftig Verurteilten unbehelligt blieben.
In Deutschland hatte zunächst die Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg Vorermittlungen im Fall des Massakers von Sant’Anna durchgeführt und den Fall danach an die Staatsanwaltschaft Stuttgart verwiesen, in dessen Einzugsbereich einer der Verdächtigen damals lebte. Dort begannen unter Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler, Chefermittler in allen „politischen Fällen“, im Jahr 2002 die Ermittlungen gegen 17 damals noch lebende Tatbeteiligte. „Umfangreich“ und „äußerst aufwändig“ geführt sollen sie gewesen sein, ist der Einstellungsverfügung zu entnehmen, die nach langwieriger, zehnjähriger Ermittlungstätigkeit am 1. Oktober 2012 erging.
Die Verschleppung der Ermittlungen hatte vorher immer wieder zu kritischen Nachfragen geführt und den Verdacht genährt, man setze in Stuttgart auf eine rein „biologische Lösung“: Schließlich waren seit ihrem Beginn bereits mehrere der hochbetagten Beschuldigten gestorben.
Als sich ein Ende der Ermittlungen nicht mehr länger hinauszögern ließ, entschied sich Bernhard Häußler, „keinen hinreichenden Tatverdacht für eine Anklage“ zu erkennen und stellte das Ermittlungsverfahren ein: Es könne sich bei dem Massaker an den über 560 Frauen, Kindern und alten Menschen auch um eine aus dem Ruder gelaufene Aktion im Rahmen der gezielten Bandenbekämpfung gehandelt haben. Diesem im Hinblick auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit der damals noch lebenden Beschuldigten maßgeblichen kruden Kollateralschaden-Ansatz schloss sich kurz darauf auch der baden-württembergische Justizminister Rainer Stickelberger (SPD) an, dem die Einstellungsverfügung zur Prüfung vorlag.
Der lange Weg durch die Instanzen
So lange aber noch einer der Beschuldigten zur Rechenschaft gezogen und damit Geschichtsfälschung verhindert werden könnte, wollten die seit 70 Jahren auf Gerechtigkeit wartenden noch lebenden Opfer des NS-Massakers von Sant’Anna und ihre Angehörigen nicht aufgeben: Im Namen ihres Mandaten Enrico Pieri, der zum Zeitpunkt der Tat zehn Jahre alt war, durch das Massaker am 12. August 1944 25 Familienmitglieder verlor und Sprecher der Opfervereinigung ist, legte die Hamburger Anwältin Gabriele Heinecke bei der zuständigen Generalstaatsanwaltschaft als nächsthöhere Instanz Beschwerde gegen die Einstellungsverfügung ein.
Die damals von uns geäußerte Hoffnung, dass damit der Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart noch eine Chance für den Nachweis geboten würde, dass sich auch in Baden-Württemberg der Umgang mit NS-Verbrechen verändert hat, um den Verdacht auszuräumen, dass der Geist der die Nachkriegszeit dominierenden furchtbaren Juristen unser Rechtssystem auch heute noch beherrscht, wurde nicht bestätigt.
Denn der bei der Generalstaatsanwaltschaft in Stuttgart zuständige Oberstaatsanwalt Peter Rörig sah keinen Grund, die Ermittlungsergebnisse anzuzweifeln. Obwohl ihm beim Vergleich der historischen Fakten aus dem Gutachten des Historikers Dr. Carlo Gentile mit dem Elaborat seines Kollegen Häußler (mittlerweile im Ruhestand) schnell hätte klar sein müssen, dass dieser, nun ja: nicht ausreichend ermittelt hat. Carlo Gentile arbeitet seit vielen Jahren als historischer Sachverständiger bei NS-Strafverfahren oder deren Vorbereitungen und ist auch Mitglied der im Jahr 2009 von den Außenministern beider Staaten eingesetzten deutsch-italienischen Historikerkommission. Sein von Enrico Pieri beauftragtes Gutachten zeigt hanebüchene Ermittlungsfehler der Stuttgarter Staatsanwaltschaft auf, sorgfältiger Umgang mit historischen Fakten sieht wahrlich anders aus. Dessenungeachtet hat Oberstaatsanwalt Rörig das Ermittlungsergebnis Häußlers im Mai 2013 für die Generalstaatsanwaltschaft bestätigt.
Häußler, Rörig und Stickelberger endlich ausgebremst!
Als letzte Möglichkeit, die Tatumstände des Massakers von Sant’Anna di Stazzema innerhalb eines ordentlichen Gerichtsverfahrens klären zu lassen, blieb den Überlebenden des Massakers nach dieser Entscheidung OStA Rörigs nur noch der Weg über die Klageerzwingung. Große Hoffnung machte sich längst niemand mehr; versucht hat es Gabriele Heinecke für ihren Mandanten aber dennoch. Und war damit erfolgreich:
Am 5. August 2014 hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgericht Karlsruhe den Einstellungsbeschluss der Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen den ehemaligen SS-Untersturmführer Gerhard Sommer aufgehoben (AZ: 3 Ws 285/13). Vollkommen anders als die Staatsanwaltschaft und die Generalstaatsanwaltschaft in Stuttgart, vollkommen anders auch als Justizminister Rainer Stickelberger, sieht das OLG Karlsruhe hinreichenden Tatverdacht gegen den Beschuldigten. Für den 3. Strafsenat bestehen „keine vernünftigen Zweifel“ daran, dass die Befehle – die Sommer als kommandierendem Offizier bekannt waren – „nicht auf die Partisanenbekämpfung beschränkt, sondern von vornherein auf die Vernichtung der Zivilbevölkerung von Sant’Anna di Stazzema gerichtet waren“. Eine Verurteilung wegen Mordes oder zumindest Beihilfe dazu sei wahrscheinlich, „sodass genügender Anlass zur Anklageerhebung besteht“.
Nachdem ein Verfahren in Stuttgart 12 Jahre lang verhindert wurde, ist die dortige Staatsanwaltschaft zukünftig übrigens außen vor, und die Herren Häußler, Rörig und Stickelberger können sich die Entscheidung des OLG Karlsruhe lediglich zur Mahnung hinter den Spiegel stecken:
Da der beschuldigte Gerhard Sommer heute in Hamburg und damit außerhalb des OLG-Bezirks lebt, konnten die Richter keine Anklage erzwingen. Sie verpflichteten die Stuttgarter Ermittler stattdessen, das Verfahren an die Hamburger Staatsanwaltschaft abzugeben. Dort sollen die Ermittlungen nun zügig wieder aufgenommen und zu einer raschen Anklageerhebung geführt werden.
Und Gauck?
Bundespräsident Joachim Gauck ist viel unterwegs zur Zeit; er folgt der Blutspur, die Wehrmacht und SS mit bestialischen Massakern an der Zivilbevölkerung in den ehemals besetzten Staaten hinterließen. Er bat im griechischen Ligiades, im französischen Oradour-sur-Glane und auch in Sant’Anna di Stazzema wortreich um Vergebung – was viel einfacher ist, als auf berechtigte Entschädigungsforderungen einzugehen oder die Praktiken der baden-württembergischen Justizbehörden kritisch zu hinterfragen: „Es verletzt unser Empfinden für Gerechtigkeit tief, wenn Täter nicht überführt werden können, weil die Instrumente des Rechtsstaats das nicht zulassen“ (Gauck im März 2013 in Sant’Anna).
Was die Instrumente des Rechtsstaates zulassen, wenn sie nicht durch eine breite Front aus Justiz und Politik blockiert werden, hat die Entscheidung des OLG Karlsruhe aufgezeigt. Ob Joachim Gauck sich wohl bei seinem nächsten Besuch in Sant’Anna bemüßigt fühlen wird, sich für diese Aussage und 12 Jahre Verfahrensverschleppung zu entschuldigen?
Sabine Bade
In Kürze erscheinen – erstmals in deutscher Sprache – die Lebenserinnerungen von Enio Mancini, in denen er das Leben in Sant’Anna di Stazzema während des Krieges und die Ereignisse des 12. August 1944 beschreibt. Mancini gehört wie Enrico Pieri zu den wenigen Überlebenden des Massakers. Dank seines Engagements konnte 1991 im ehemaligen Schulgebäude von Sant’Anna das Historische Museum des Widerstands eröffnet werden, dessen Leiter er bis 2006 war. Zusammen mit Enrico Pieri wurde Enio Mancini von den „Anstiftern“ der Stuttgarter Friedenspreis 2013 verliehen.
Gabriele Heinecke, Christiane Kohl, Maren Westermann (Hg): Das Massaker von Sant’Anna di Stazzema – Mit den Erinnerungen von Enio Mancini. Mit Beiträgen von Christiane Kohl und Maren Westermann, der juristischen Einordnung von Gabriele Heinecke sowie einer Untersuchung des Historikers Carlo Gentile.
Laika Verlag Hamburg, ISBN: 978-3-944233-27-7, Hardcover mit Schutzumschlag, 144 Seiten, 19,00 €. Erscheint im August 2014.
Sehr geehrter Herr Rosenbaum,
Eine „deutliche Distanzierung von den ‚Instrumenten des Rechtsstaats‘, wie sie die Stuttgarter Staatsanwaltschaft angewandt hat“, kann ich in dem von mir zitierten Satz Gaucks beim besten Willen nicht erkennen.
Die Instrumente unseres Rechtsstaats finden nun einmal ihre Grenzen in den Verjährungsfristen, auf die Gauck mit seinem Bedauern abstellt. Womit er den Argumentationssträngen der Stuttgarter Ermittler folgt, die in dem Massaker eine aus dem Ruder gelaufene Aktion im Rahmen der gezielten Bandenbekämpfung (Totschlag, bereits verjährt) sehen wollten und keine auf die Vernichtung der Zivilbevölkerung von Sant’Anna di Stazzema ausgerichtete Tat (Mord oder Beihilfe zum Mord, noch nicht verjährt).
Durchaus ähnlich äußerte sich auch Baden-Württembergs Justizminister Stickelberger in seiner Presseerklärung vom 1.10.2012:
„Ich bedauere sehr, dass es trotz des großen Ermittlungsaufwands nicht gelungen ist, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Ich bin mir bewusst, dass dies besonders für die Angehörigen der Opfer dieses Kriegsverbrechens eine große Belastung ist.“
Die Ermittlungsbehörden seien aber an Recht und Gesetz, sprich: die Verjährungsfristen, gebunden.
Gauck selbst hat dies in seiner Rede in Sant’Anna ausgeführt:
„Es gibt Schuld, auch wenn ein Gericht für diese Dimension von Schuld nicht zuständig ist.“ Nicht zuständig???
Mit seiner gesamten Rede stellt er sich ausschließlich in die „moralische Schuld“, „religiöse Schuld“, auch die „politische Schuld“ – und exkulpiert damit die Stuttgarter Ermittler und Herrn Stickelberger als deren Dienstherrn.
Natürlich wurde der Grundfehler in den 1950er-Jahren begangen. Aber niemand zwingt uns, diese Fehler im 21. Jahrhundert fortzuschreiben: Opfern von NS-Gewaltverbrechen gegenüberzutreten und damit abzuspeisen, moralische Schuld zwar anzuerkennen, die Möglichkeit, vor deutschen Gerichten auch die strafrechtliche Schuld überprüfen zu lassen, aber verweigern.
Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sich der von Ihnen angeführte hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, ohne den die Auschwitzprozesse wahrscheinlich gar nicht zustande gekommen wären, damit zufrieden gegeben hätte.
Mit freundlichem Gruß
Sabine Bade
Was soll das Gauck-Bashing? Und wofür soll sich der Bundespräsident entschuldigen? Der zitierte Satz ist doch eine deutliche Distanzierung von den „Instrumenten des Rechtsstaats“, wie sie die Stuttgarter Staatsanwaltschaft angewandt hat. Das verletzt für ihn das Empfinden, wie er sagt. So etwas kann nur jemand missverstehen, der nichts von der Rolle des Bundespräsidenten und seinen begrenzten Möglichkeiten, die Rechtsprechung zu bewerten, weiß. Oder der ihm übel will. Gaucks Auftritt in Sant’Anna zusammen mit Napolitano hat das Thema in den Blickpunkt gerückt, und ist – wer weiß – vielleicht auch bis zu den Karlsruher Richtern durchgedrungen. Ich fürchte nur, die ganze Sache bleibt ein Pyrrhus-Sieg, wenn der 93-jährige Herr Sommer gar nicht mehr verhandlungsfähig ist. Der Grundfehler wurde in den 50-er Jahren begangen, als Adenauer und De Gasperi vereinbarten, die alten Geschichten ruhen zu lassen. Ohne einen Fritz Bauer wäre es auch dabei geblieben.